Ob traumatisierter Mann („Als wir Waisen waren“) oder Klon-Kind („Alles, was wir geben mussten“) oder Butler Stevens („Was vom Tage übrigblieb“): Stets ist die Brillanz der eingeschränkten Perspektive der Ich-Erzähler*innen ein wesentliches Element beim Genießen eines Ishiguro-Romans gewesen.
Auch Klara in „Klara und die Sonne“ ist eine Ich-Erzählerin. Der britische Nobelpreisträger hat für seinen ersten Nach-Nobelpreis-Roman eine Künstliche Intelligenz gewählt, genauer gesagt eine KF, eine Künstliche Freundin für einsame Kinder.
Einsame Kinder, die per Internet von einem Lehrer unterrichtet werden, ist in der nahen Zukunft die Norm (Der Roman wurde vor COVID-19 fertiggestellt!) und der Bedarf an KFs ist groß.
Wir folgen dem Produkt-Lebenszyklus von Klara von ihrer Aktivierung im Laden über das Leben mit einer Familie bis zum Schrottplatz. Auf ca. 350 Seiten lernt Klara durch Beobachten und Analysieren, durch Irrtümer und Begegnungen, ein Mensch zu sein: Hoffen, Beten, Lieben.
Was ist der Mensch?
Dass jeder Mensch tatsächlich eine ganz eigene Wirklichkeit wahrnimmt, wissen wir spätestens seit Paul Watzlawick. Jetzt erzählt uns eine KI von ihrer – anderen – Wirklichkeit und Ishiguro macht das wirklich schön.
Der Roman korrespondiert natürlich mit „Alles, was wir geben mussten“ und stellt den zum Tode verurteilten Kindern von Hailsham eine angenehmere Alternative zur Seite. Die Frage hat sich nur eine Umdrehung weitergedreht und bleibt dieselbe: Was ist der Mensch? Was ist der Mensch, wenn ein Klon oder eine KI genauso denken, fühlen, hoffen und lieben?