Die spürst du nicht – Daniel Glattauer (2023)

Frau Ladan Bashiir Ismaciil, Ehefrau eines Eisenwarenhändlers und Mutter von vier Kindern, wird vom Schicksal in hiobschem Ausmaß getroffen. Doch anstatt eines Shakespeare-Dramas oder eines Dostojewski-Romans füllt der Tod von drei Kindern, die Brechung ihres Mannes und das Abdriften ihres Sohnes nur etwa 15 Seiten im großen Roman von Daniel Glattauer.

Frau Ladan Bashiir Ismaciil wird auch nicht mehr mit ihrem Namen wahrgenommen, sie ist Frau „Ahmed, oder Mohammed?“, beziehungsweise „die Säule“. Letzter Bezeichnung stammt von einer Wiener Grünpolitikerin und bezieht sich auf ihre religiöse Bekleidung. Denn Frau Ladan Bashiir Ismaciil lebt nicht mehr in Somalia, sondern in Floridsdorf im Norden von Wien. Hier wird sie lediglich als das gesehen, was die österreichischen Augen sehen wollen und intrpretieren: Äußeres und allfällige Mängel.

In Wien verknoten sich die Leben der somalischen Familie und der Wiener Familie, was zum Tod von Aayana, der 14-jährigen Freundin von Sophie Luise (14) führt.

Auf 304 Seiten führt uns Daniel Glattauer vor. Uns, die gebildete urbane Mittelschicht. Uns, die in Wien „Bobos“ genannt werden: Engagierte, interessierte, mitfühlende Mitbürger*innen.

Mimikry der Wiener Gesellschaft

Ihnen widmet sich der Autor mit seiner ganzen Energie, karikiert und imitiert grandios typische Vertreter*innen: den Staranwalt, den intellektuellen Uni-Lektor, die engagierte Grün-Politikerin, den Edel-Winzer und andere. Während der äußerst vergnüglichen Lektüre wird der Leser immer verstörter: Die Wiener Familie und ihr Umgang mit dem Tod des Mädchens, sowie die Zeichnung ihres Milieus nehmen unverhältnismäßig viel Raum ein. Sie „verdrängen“ die somalische Familie aus dem Buch und aus der Wahrnehmung. Ein grandioser Spiegel unseres Umgangs mit dem Leid der Geflüchteten.

Selbstdarstellung und Verdrängung

Es ist ein hartes Buch. Allerlei Amüsement bleibt einem im Halse stecken. EIN Thema des ehemaligen „Standard“-Journalisten ist die „Standard-Tickeria“, ein Insiderthema einerseits, andererseits ein wichtiger Beitrag in der Medien-Debatte zur Kommentarfunktion auf Webseiten von Zeitungen. Bekanntermaßen verfolgen die verschiedenen Medien die unterschiedlichsten Strategien von der intensiven Repräsentanz der Leser*innen auf der eigenen Webseite bis zur Haltung der Süddeutschen Zeitung, keinen Milimeter der Webseite den Kommentaren einzuräumen. (An dieser Stelle sei die Lektüre der SZ im Vergleich empfohlen.)

Die „Standard“-Poster*innen vertreten jedenfalls die Meinung, ihre Kommentare steigerten die Qualität der Berichterstattung. Glattauers exzellente Mimikry der Beiträge entlarvt jedoch die Selbstgefälligkeit des Forums. Auch hier: Die Geschichte der somalischen Familie dient der Selbstdarstellung und der Beschäftigung mit sich selbst. Ist das ein Verbrechen? Nein, viele, sogar die meisten Dinge im Leben dienen der Selbstdarstellung. Aber viele indivduell motivierte Einzelpostings ergeben als ganzes Forum ein unangenehmes Bild.

Daniel Glattauer: „Die spürst du nicht“, 2023

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