AMNESIE, GEDÄCHTNISVERLUST – das sind die Ingredienzien von Thrillern. Ein Spionage-Roman kann viele hundert Seiten darauf zusteuern, die Wahrheit endlich ans Licht zu bringen. Alles arbeitet darauf hin, das Vergessen zu beenden.
Der britische Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro, der es sich zur Aufgabe gestellt zu haben scheint, jeden seiner Romane in einem anderen Genre zu schreiben, hat den Topos der Amnesie in den Fantasy-Roman entführt und betrachtet ihn dort von überraschenden Seiten.
On the Road
Axl und Beatrice machen sich auf den Weg. Sie erinnern sich vage, einen Sohn gehabt zu haben und begeben sich auf die Suche nach ihm. Mit ihnen stolpert der Leser durch eine Landschaft mit versprengten Menschen, Drachinnen, Rittern und möglichen Helden. Alle sind von Gedächtnisverlust betroffen. Langsam, Schritt für Schritt, lichten sich die Nebel für das Ehepaar und auch für die LeserInnen, was eine hübsche Konstruktion ist.
Im Laufe der aventiure, des mittelalterlichen Roadmovies, staunen wir nicht nur über magische Wesen (und warten unsicher, ob sich nun eine Art “Game of Thrones” entwickln wird), sondern wir bemerken einen vorsichtigen, höflichen Umgang der Figuren untereinander (also kein “Game of Thrones”) und folgen der Enthüllung der Vergangenheit.
War das Vergessen nicht besser? Die Versuchsanordnung von Ishiguro führt uns weg von der aktuellen Begeisterung am Investigativen, an der Suche nach der Wahrheit, und stellt die Frage, ob wir in der Gegenwart besser zusammenleben können, wenn die Vergangenheit verborgen ist. Als Paar und als Gesellschaft. Eine radikale These gegen das Credo “Niemals vergessen!”
“Niemals vergessen!” – oder doch?
In einem Interview in der Welt berichtet Ishiguro, dass der Krieg in Jugoslawien mit seinen gezielten Manipulationen von Erinnerungen aus den Weltkriegen eine seiner Szenarien am Beginn des Schreibprozesses für den begrabenen Riesen waren.
Für das Paar ist die Frage drängend: Es gibt bald kein morgen mehr für weitere Überlegungen, der Fährmann ins Totenreich wartet schon. Für die Unterdrücker und die hasserfüllten Unterdrückten der jüngsten Bürgerkriege im England des 6. Jahrhunderts hingegen ist die Frage nach dem gnädigen Vergessen eine grundsätzliche.
Ishiguro stellte 2005 in seinem Roman “Alles, was wir geben mussten” die Frage auf unvergessliche Weise ganz neu, was denn ein Mensch sei. Nach “Der begrabene Riese” werden uns noch lange fragen, ob wir den Prinzipien Wahrheit und Geständnis den richtigen Stellenwert zubilligen.

Kazuo Ishiguro: Der begrabene Riese